Rückblick
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Im Jahr 1974 begann das interdisziplinäre Schwerpunktprogramm „Mensch, Kultur und Umwelt im zentralen Bergland von West-Neuguinea“ der deutschen Forschungsgemeinschaft in einem damals ganz abgeschiedenen Hochtal. Die Eipo lebten als neolithische Gartenbauer und Schweinezüchter entsprechend ihren Jahrtausende alten Traditionen und ließen uns selbstbewußt Anteil nehmen an Ihrem Alltag. Nach zwei schweren Erdbeben im Jahr 1976 und dem vorläufigen Ende der Feldforschungen gewann eine amerikanische Mission Einfluß. Um 1980 entschlossen sich die Eipo, das Christentum anzunehmen, nicht primär aus theologischen, sondern vor allem aus politischen Gründen. Sie hatten verstanden, daß um sie herum eine weite Welt der „Zivilisation“ existierte, von der sie nicht weiter abgeschieden sein wollten. Kinder und Jugendliche begannen, die im Dorf begründete staatliche und andere Schulen zu besuchen; derzeit sind etwa 100 von ihnen in High Schools bzw. an verschiedenen Universitäten der Provinzhauptstadt Jayapura oder in anderen indonesischen Städten eingeschrieben. Fast alle Eipo, auch die Älteren, die nie eine Schule besucht haben, sprechen gutes bis sehr gutes indonesisch, kommen mit den astronomischen Geldsummen (15.000 Rupiah = 1 €), dem Handy, dem Computer und, falls sie dort leben, dem urbanen Gewimmel der Großstädte zurecht. Etliche der jungen Leute haben anspruchsvolle Masterarbeiten geschrieben oder andere akademische Titel erworben und einige Eipo sind Abgeordnete im lokalen Parlament. Das Leben im Dorf hat sich ebenfalls geändert, an manchen Tagen landen zwei oder gar drei kleine Flugzeuge auf der von ihnen per Hand angelegten Landebahn, die früher marginale Ernährung ist durch Reis, Speiseöl und andere Lebensmittel ergänzt, die Eipo sind mittlerweile auch erfolgreiche Fischzüchter, so daß die schnell wachsende Bevölkerung viel mehr Protein zur Verfügung hat als früher. Auf ihre eigene Initiative hat die Regierung ein Wasserkraftwerk gebaut, das die Stromversorgung sichert. Weitere Lebensgrundlage sind nach wie vor die sorgfältig bearbeiteten Gärten und die Schweinezucht. Die Eipo sind durchaus Akteure im Prozeß des Kulturwandels, sie haben verstanden, daß man auch in der modernen Welt Leistung erbringen muß, um für sich und seine Familie erfolgreich zu sein. Probleme existieren vor allem durch die enorme Zunahme der Bevölkerung: Krieg und bewaffnete Kämpfe sind praktisch vollkommen verschwunden, der Neugeboreneninfantizid ist aufgegeben, die Mädchen haben einen früheren Eintritt der Menstruation und Frauen stillen nicht mehr an die drei Jahre, sondern kürzer, damit stieg die Anzahl ihrer Kinder, eine staatliche medizinische Basisversorgung hat die Sterblichkeit verringert. Die Eipo wissen, daß ihr Gartenland bereits jetzt bis an die Grenze der Tragekapazität genutzt wird, sie haben Pläne, bei den Nachbarn aus ihrem Sprachgebiet in der dünner besiedelten Region flußabwärts Gärten anzulegen. Sie möchten die Zukunft ihrer Gruppe mitbestimmen und treffen kluge politische Entscheidungen. In der Stadt gibt es Männer, die über die Bundesliga besser Bescheid wissen als der Durchschnittsdeutsche. Es ist erstaunlich, wie die Eipo die gewaltigen Herausforderungen der Umstellung ihres Lebens bewältigen, der weiterhin enge Zusammenhalt in den Familien und Dörfern ist eine sichere Basis dafür. Sie kommen in der modernen Welt gut zurecht... ohne jemals Aristoteles gelesen zu haben. Das im Verlauf der Evolution geformte Gehirn des Homo sapiens ist für das Neue gerüstet.
c.v. Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel
Leiter der Gruppe Humanethologie, Max-Planck-Institut für Ornithologie, Starnberg-Seewiesen. Gründungsmitglied des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Universität München. Gastprofessuren für Humanethologie an der Universitäten Innsbruck (seit 1990) Zürich, Toronto, Bukarest, Groningen und Bordeaux. Ex-Fellow von: Wissenschaftskolleg zu Berlin, Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZIF), Collegium Budapest, Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst sowie Exzellenzcluster „Topoi“ der HU und der FU Berlin. Mitglied in wissenschaftlichen Beiräten (z.B. Forschungsinstitut und Museum Senckenberg); Mitglied des Board of Trustees, International Society for Human Ethology. Erste Feldarbeit in Neuguinea 1965/66, Felddirektor des DFG Schwerpunktprogramms „Mensch, Kultur und Umwelt im zentralen Bergland von West-Neuguinea“ 1974 - 1976, seither fortlaufende Forschungsprojekte, vor allem in Melanesien. Letzte Felduntersuchung bei den Eipo und den Ok, Sterngebirge, Provinz Papua (West-Neuguinea), Indonesien, 2018 im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprogramm „Windows into the Past“ der Universität Bordeaux, des nationalen Zentrums für Archäologie Jakarta und des Max Planck Instituts Seewiesen. Letzte Buchpublikation: Martin Brüne & Wulf Schiefenhövel (Eds., 2019) „The Oxford University Press Handbook of Evolutionary Medicine“